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20.11.2020

"Ein Motor sozialer Bewegungen"

Schriftstellerin Daniela Dröscher über die persönliche und politische Bedeutung des Erfahrungswissens

Die Schriftstellerin Daniela Dröscher infizierte sich mit dem Coronavirus und reflektiert in einem Beitrag für "Zeit Online", wie bedeutend Erfahrungswissen persönlich sowie politisch ist. Diese Art von Wissen werde bisweilen gering geschätzt. "Nun gibt es jedoch einen Lebensbereich, in dem wohl niemand die Relevanz persönlicher Betroffenheit in Abrede stellen würde, und das ist die eigene Gesundheit. Werde ich krank, ist es wichtig, den eigenen Körper und seine Symptomatik entziffern zu können", schreibt Dröscher.

So sei es allgemein und besonders aktuell wichtig, einschätzen zu können, ob man ärztlichen Rat einholt oder nicht: "In einer Pandemie kann der Leitsatz 'Lieber einmal mehr als einmal zu wenig' erst recht nur begrenzt gelten. Denn das Gesundheitssystem gerät an seine Grenzen; nehme ich ärztliche Hilfe in Anspruch, ohne dass es unbedingt notwendig wäre, befeuere ich diese Überlastung."

Die Schriftstellerin setzt sich mit eigenen Problemen auseinander, Symptome und die Schwere einer Krankheit zu deuten: "Lange Zeit war mein Gefühl für meinen Allgemeinzustand völlig aus dem Gleichgewicht. Ich schwankte zwischen Leichtsinn und Übervorsicht. Mal saß ich zum dritten Mal im Monat in der Notaufnahme, mal habe ich den Gang in die Praxis hinausgezögert, obwohl ich dringend ein Antibiotikum gebraucht hätte." Kranksein und Gesundwerden müsse man lernen.

Am Ende beschreibt Dröscher, wie schwierig es sein kann, über das eigene Kranksein oder insgesamt eigene Betroffenheit zu reden: "Zu tief sitzt das Klischee der wehleidigen Frau, die man auf gar, gar keinen Fall sein will. Krankheit ist schnell mit Scham, wenn nicht gar mit Schuld besetzt." Und weiter: "Wenn sogenannte 'selbsternannte Betroffene' über ihre Erfahrungen sprechen, wird das bisweilen als 'identitätspolitisch' verunglimpft." Die Autorin spricht sich aber dafür aus: "Denn dass man Erfahrungen miteinander teilt, kann ein Motor sozialer Bewegungen sein. Wenn jemand anfängt, 'ich' zu sagen und über seine Erfahrungen zu sprechen, dann sagen andere nämlich irgendwann auch 'ich' oder 'ich auch'."

Quelle: Daniela Dröscher: "Für ein mündiges Kranksein", Beitrag vom 19. November 2020 | www.zeit.de