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Selbsthilfe und Familie

Abgeschlossenes Projekt:
"Den Familienbezug von Selbsthilfegruppen verdeutlichen und die Familienorientierung der Selbsthilfeunterstützung stärken"
2004 – 2006 | Förderer: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Selbsthilfegruppen sind Solidargemeinschaften Gleichbetroffener und damit neuartige Hilfesysteme, die nicht auf familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen gegründet sind. Sie sind in ihrer Entstehung wie in ihrer Wirkungsweise familienbezogen, familienergänzend und familienentlastend – was schon die Vielzahl von Eltern- und Angehörigengruppen zeigt. Die NAKOS hat in diesem Zusammenhang den Begriff "sorgende Netze" geprägt.

Selbstorganisierte Eltern-Kind-Gruppen ebenso wie zahlreiche Einzelgruppen wie „Alleinerziehende Mütter und Väter“ oder „Gemeinsame Sorge nach Trennung und Scheidung” haben einen expliziten Familienbezug. In der Vermittlungsarbeit der NAKOS – ebenso wie bei den örtlichen Selbsthilfekontaktstellen – nehmen Themen oder Probleme mit Eltern, Kindern und Angehörigen großen Raum ein.

Rund drei Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich in Selbsthilfegruppen zu einem bestimmten gesundheitlichen, psychosozialen oder sozialen Thema.

In Selbsthilfegruppen schließen sich Menschen mit demselben Problem oder mit einem gemeinsamen Anliegen oder in einer gleichen Lebenssituation zusammen. Die Selbsthilfeengagierten sind entweder selbst oder mittelbar, etwa als Angehörige, Freund*innen oder Nachbar*innen, betroffen.

Gründe für die große Verbreitung von Selbsthilfegruppen sind zum Beispiel:

  • die Zunahme chronischer, degenerativer und psychosomatischer Erkrankungen,
  • hohe Flexibilitäts- und Mobilitätserfordernisse durch das Arbeitsleben,
  • mangelnde Vereinbarkeit von Familie, Berufstätigkeit und bürgerschaftlichem / zivilgesellschaftlichem Engagement
  • hoher psychosozialer Stress.

Eine wesentliche Funktion der gemeinschaftlichen Selbsthilfe in Gruppen ist es, eine Balance zwischen den Anforderungen aus Beruf, Familie, konkreten Problemlagen (Krankheit, Lebenskrise) und persönlichen und sozialen Lebenszielen herzustellen.

Eine zentrale Rolle für die Entstehung und Verbreitung von Selbsthilfegruppen spielen Lücken und Defizite in der sozialen und gesundheitlichen Versorgung und die Schwächung der Auffang- und Bindungskraft von primären Hilfesystemen / Netzwerken (Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft), die durch den gesellschaftlichen Wandel hervorgerufen wird.

Selbsthilfegruppen stellen allerdings keinen Gegensatz zu primären Netzen dar, sondern sind in ihrer Entstehung und Wirkung familienbezogen, familienergänzend und familienentlastend – das zeigt sich zum Beispiel in der Vielzahl von bestehenden Angehörigengruppen.

Modell für ein Zusammenwirken von Gruppen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe, Familien, Nachbarschaft und professionellen Einrichtungen in der Gemeinde.

Die NAKOS versteht unter sorgenden Netzen alltagsnahe, offene und zugleich verlässliche Beziehungsgeflechte von Menschen, die sich in Bezug auf ein gemeinsames Problem oder Anliegen gegenseitig unterstützen und gemeinsam aktiv sind. „Sorge“ wird hierbei nicht als fremdbestimmte „Fürsorge“ verstanden, sondern als ein gemeinsamer Entwicklungsprozess, bei dem alle Beteiligten über sich selbst bestimmen und sich auf gleicher Augenhöhe begegnen.

Sorgende Netze sind ein Modell für das Zusammenwirken von gemeinschaftlicher Selbsthilfe, Familie und Nachbarschaft sowie professionellen Einrichtungen in der Gemeinde. Sie dienen der Entwicklung und Stärkung von gemeinschaftlichen Selbsthilfe- und Nachbarschaftsaktivitäten im unmittelbaren alltäglichen Lebensrahmen der betroffenen und engagierten Menschen. Die Mitwirkung von und die Zusammenarbeit mit Fachleuten in gesundheitlichen, sozialen, pädagogischen oder kulturellen Einrichtungen auf kommunaler oder Stadtteilebene wird durch solche Netze ermöglicht.

Folgende Akteure wirken in sorgenden Netzen vor Ort zusammen:

  • Menschen in ihren realen Beziehungen (Angehörige, Freund*innen, Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen)
  • Menschen in wahlverwandtschaftlichen Beziehungen, zum Beispiel in Selbsthilfegruppen
  • sympathisierende Mitstreiter*innen (zum Beispiel engagierte Privatpersonen aus dem Ortsteil / Stadtteil oder aus Vereinen und Initiativen)
  • Fachleute auf freiwilliger Basis bzw. im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit.

Bei den Beziehungen in einem sorgenden Netz geht es um reale Lebensbeziehungen. Der soziale Zusammenhalt gründet allerdings nicht bzw. nicht wesentlich auf verwandtschaftlichen, sondern auf selbst gewählten Beziehungen.

Betroffene Menschen und An- und Zugehörige, die in Selbsthilfegruppen aktiv sind, haben im Setting eines sorgenden Netzes eine zentrale Stellung. Der Austausch, die gegenseitige Hilfe und gemeinsames Handeln – wie in Gruppen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe üblich – sind die tragenden Elemente eines sorgenden Netzes.

Weitere Kennzeichen eines sorgenden Netzes sind die stabile Verfügbarkeit des Netzes, die Mitwirkung von "sympathisierenden" Personen, die selbst nicht direkt von dem Problem betroffen sind, aber mitmachen. "Sympathisierende" Personen können auch kooperierende oder begleitende Fachleute aus gesundheitlichen, sozialen, pädagogischen oder kulturellen Einrichtungen sein, die aus eigenem Antrieb mitwirken.

Im Rahmen ihrer Unterstützungsarbeit haben Selbsthilfekontaktstellen mit vielfältigen Familienbezügen der Menschen und Selbsthilfegruppen vor Ort zu tun.

Selbsthilfekontaktstellen wollen Zugänge, Begegnung und Handlungsmöglichkeiten schaffen. Das gilt unmittelbar praktisch zum Beispiel für mobilitätseingeschränkte Menschen, aber auch für alle anderen Nutzer*innen der Angebote.

Immer geht es dabei um die Berücksichtigung von Lebenssituationen, Belastungen, Arbeits- und Familienzusammenhängen und um passende Rahmenbedingungen, zum Beispiel gute Erreichbarkeit, flexible Öffnungszeiten, angemessene Räumlichkeiten, nützliche Ausstattung mit Arbeitsmitteln.

1. Familienfreundliche Rahmenbedingungen in Selbsthilfekontaktstellen

Ein offener, niederschwelliger Zugang und eine zentrale Lage (gute verkehrsmäßige Erreichbarkeit) sind selbstverständliche Maximen von Selbsthilfekontaktstellen.
Die Nutzung der Räumlichkeiten und der technischen Ausstattung einer Selbsthilfekontaktstelle ermöglichen die Zusammenkunft und die Arbeit der einzelnen Gruppen und eröffnen darüber hinaus die Begegnung mit Mitgliedern anderer Gruppen.
Die Öffnungszeiten von Selbsthilfekontaktstellen sind an den Bedürfnissen der Interessierten und Gruppen orientiert; das heißt, dass sowohl während der üblichen Arbeitszeiten / Geschäftszeiten als auch an Abenden und gegebenenfalls am Wochenende Angebote und Ressourcen der Kontaktstelle – also familienfreundlich – genutzt werden können.
Spezielle familienfreundliche Rahmenbedingungen (zum Beispiel Kinderbetreuung, kindgerechte Aufenthaltsmöglichkeiten wie Spielzimmer, offene Begegnungsmöglichkeiten / Treffs, behinderten- und seniorengerechte Zugänge und Arbeitsmittel) sind in hohem Maße ausstattungs- bzw. ressourcenabhängig und damit nicht immer gegeben.

2. Konzeptionelle Offenheit der Selbsthilfekontaktstellen zur Stärkung von Familien und familienbezogenen Netzwerken

Das Arbeitskonzept von Selbsthilfekontaktstellen ist grundsätzlich offen. Die Stärkung von Familien und familienbezogenen Netzwerken ist damit möglich. Selbsthilfekontaktstellen können bei der Verbesserung von Angeboten für Familien, bei der Erhöhung von Familienkompetenz und der Trägfähigkeit sorgender Netze mitwirken und entsprechende Vorhaben anregen.
Bei der Begleitung von Gruppen werden familiäre Belange in die Gruppenarbeit und in die Öffentlichkeitsarbeit umso wahrscheinlicher einbezogen als diese auch unmittelbar Gegenstand der Gruppen sind (zum Beispiel Eltern-Kind-Gruppen; Gruppen von Eltern behinderter Kinder; Gruppen Alleinerziehender; Gruppen pflegender Angehörige; Gruppen sorgender Eltern nach Trennung und Scheidung; Elternkreise suchtgefährdeter Kinder und Jugendlicher; aber auch: Gruppen von Kindern suchtkranker Eltern).
Selbsthilfekontaktstellen benötigen für die Entwicklung von Angeboten zur Stärkung von Familien und familienbezogenen Netzwerken allerdings eine angemessene personelle und sächliche Ausstattung.

3. Empowerment: Das Besondere in Selbsthilfekontaktstellen

Die Fachlichkeit von professionellen Selbsthilfeunterstützer*innen in Selbsthilfekontaktstellen zielt darauf, den Selbsthilfekräften bei den Einzelnen und in der Gruppe zur Entfaltung zu verhelfen (Empowerment-Ansatz). Bei der Beratung von Interessierten wie bei der Gründungshilfe und Begleitung von Gruppen wirken sie anregend, stabilisierend und bekräftigend. Sie fördern und stärken dabei die Betroffenen- und Solidarkompetenz.
Die Unterstützer*innen haben die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu sichern, Klärungshilfe zu leisten, Wegbereitung und Feedback anzubieten. Dafür tragen sie die Verantwortung, nicht jedoch für die Ziele und die spezifische Problembearbeitung einer Gruppe wie etwa eine bessere Ausgestaltung sozialer Netze für Familien, die Vertretung familiärer Belangen in der Öffentlichkeit, die Verbesserung von Teilhabechancen von Kindern, Senioren, Eltern … Dafür sind und bleiben die Selbsthilfeengagierten und ihre Gruppen selbst verantwortlich.

4. Verbreitung von Selbsthilfekontaktstellen

In Deutschland gibt es gegenwärtig rund 300 Selbsthilfeunterstützungseinrichtungen (örtliche Selbsthilfekontaktstellen / Selbsthilfeunterstützungsstellen und überregional arbeitende Einrichtungen) mit Angeboten an 342 Standorten (NAKOS-Datenbank ROTE ADRESSEN; Stand: Dezember 2019).

Illustration

Familien und bürgerschaftliches Engagement. Hemmnisse überwinden – Kooperationen stärken – Netzwerke bilden. Engagementfördernde Einrichtungen arbeiten zusammen.
NAKOS 2007

Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen
Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) bezieht Selbsthilfe ein
Jutta Hundertmark-Mayser (NAKOS) | 2022

Erfahrungsbericht einer Selbsthilfegruppe "verstoßene Großeltern"
Margrit Thomas | 2014

Gemeinsam die Familie stärken. Perspektiven der Selbsthilfe
Wolfgang Thiel (NAKOS) | 2013

Selbsthilfegruppen – Wissenswertes für Eltern
Wolfgang Thiel (NAKOS) | 2013

Stärkung der Familienorientierung in der Selbsthilfe
Ein Projekt der AOK – Die Gesundheitskasse für Niedersachsen und des Vereins für Gesundheit und Selbsthilfe e.V. Wittmund/Wilhelmshaven.
Horst-Diedrich Kraeft | 2013

Elterninitiative Kinderkrebs nördliches Emsland und Umgebung e.V. – ein erprobtes Beispiel familienorientierter Selbsthilfe
Heidi Pankla-Langen | 2013

Gemeinsam die Familie stärken. Systemische Perspektiven der Selbsthilfe
Wolfgang Thiel (NAKOS) | 2012

Familienorientierte Selbsthilfe sichtbar machen, unterstützen und fördern
Christopher Kofahl | 2012

Jugendhilfe als Interventionsform und Selbsthilfe als partizipative Arbeitsform – gegensätzliche oder kompatible Handlungsstrategien?
Ursula Helms (NAKOS)
NAKOS Expertisen 4 | 2009

Sucht-Selbsthilfe - Familie - Kinder
Wiebke Schneider | 2007

Die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit, Selbsthilfe, bürgerschaftlichem Engagement und Familie
Ralph Schilling | 2007

Familienselbsthilfe im Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV)
Antje Beierling | 2006

Selbsthilfegruppe und Familie: Elternschaft mit einem behinderten Kind
Helga Appel | 2006

Bürgerschaftliches Engagement und Familienorientierung
Thomas Röbke | 2006

Verwandtschaften und Wahlverwandtschaften: Familie und Selbsthilfe. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Annemarie Gerzer-Sass | 2006

Lokales Bündnis für Familie in der Region Schleswig-Flensburg
Erfahrungsbericht und Plädoyer für eine Beteiligung der Selbsthilfe.
Roman Schiller | 2006

Familienselbsthilfe in NRW
Ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Studie.
Norbert Wohlfahrt, 2005

Arbeitsgemeinschaft deutscher Familienorganisationen (AGF)
In der AGF sind die fünf großen Familienverbände Deutschlands zusammengeschlossen. Sie setzen sich für die Interessen und Rechte von Familien in Politik und Gesellschaft ein.

Lokale Bündnisse für Famile
Lokale Bündnisse für Familie sind Netzwerke von Akteur*innen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft, die sich für gute Lebens- und Arbeitsbedingungen für Familien vor Ort einsetzen. Bundesweit gibt es rund 620 Netzwerke, die familienorientierte Projekte vor Ort initiieren.

Online-Familienhandbuch
Das Online-Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) deckt das ganze Spektrum des Familienlebens ab. Zum einen werden alltägliche Themen wie Zähneputzen, Spielzeug oder Fernsehen behandelt. Auf der anderen Seite geht es um Konfliktsituationen, in die Familien geraten können.

Familienratgeber
 Der Familienratgeber der Aktion Mensch ist ein kostenloses Internet-Angebot für Menschen mit Behinderung und ihre Familien. Er bietet Informationen zu einer Vielzahl von Themen, die für Menschen mit Behinderung von Bedeutung sind, um möglichst selbstbestimmt am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben.